P. W. Hildmann u.a. (Hrsg.): Staat und Kirche im 21. Jahrhundert

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Titel
Staat und Kirche im 21. Jahrhundert.


Herausgeber
Hildmann, Philipp W.; Stefan, Rößle
Reihe
Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung 96
Erschienen
München 2012: Hanns-Seidel-Stiftung
Anzahl Seiten
308 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Roland Löffler, FB Evangelische Theologie, Philipps-Universität Marburg

Es ist ein immerwährendes Thema: Das Verhältnis von Staat und Kirche. Und es wird es auch bleiben, weil sich immerwährend etwas ändert: Hatten die deutschen Kirchen in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen «öffentlichen Auftrag» zur Mitgestaltung der Gesellschaft zugetragen bekommen, setzte seit den 1960er ein massiver Säkularisierungsschub ein, den beide Kirchen bis heute nicht recht zu bewältigen verstehen. Hinzu kommt seit zwei Jahrzehnten – als Folge von Migration und Integration – ein zunehmend selbstbewusster Islam, der die öffentliche Wahrnehmung einer «Renaissance der Religionen» nicht unerheblich (mit)prägt. Auch die Daten des Statistischen Bundesamtes sprechen eine klare Sprache, dass sich Deutschland religionssoziologisch tiefgreifend ändert: 72% der Bevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaft an, nur noch 57% einer der beiden großen Kirchen. Dreiviertel der Ostdeutschen sind konfessionslos. Was also ist zu tun – aus Sicht der Kirchen, der Wissenschaft, aber auch der christlichen Parteien CDU/CSU, denen es ja um die Selbstvergewisserung ihres Werte-Fundaments und um das ihrer Wähler sowie die Interaktion von gesellschaftspolitischen Vorfeldorganisationen (zu denen auch die Kirchen zählen) und Politik geht?

Diesen Fragen geht der Sammelband von Philipp Hildmann und Stefan Rößle nach. Der Germanist und evangelische Theologe Hildmann leitet das Vorstandsbüro der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung und gehört zu den kreativsten und aktivsten Grenzgängern zwischen Wissenschaft, politischer Praxis und Kirche, während Stefan Rößle einer der politischen Hoffnungsträger der CSU ist, Landrat des Donau-Ries-Kreises und stellvertretender Vorsitzender der Zukunftskommission seiner Partei. Beide versammeln 23 namhafte Autorinnen und Autoren, die sich historischen, theologischen, soziologischen und gesellschafts-politischen Fragestellungen widmen.

Die historischen Analysen von renommierten Wissenschaftlern wie Hans Maier (Gott als Grund von Verfassungen), Dieter J. Weiß (Staats-Kirchenverhältnis in Bayern) und Rudolf Lill (Katholizismus in Italien) oder auch Heinrich Badura (Kirche in Polen) präsentieren solide den Stand der Forschung. Im Blick auf die noch immer umstrittene Position des Islam in der deutschen Gesellschaft skizziert Jörn Thielmann (Erlangen) die historische Genese des Islam in Deutschland, die unterschiedlichen Gruppen und Netzwerke und die Herausforderungen für die islamischen Verbände, sich als Ansprechpartner für Bund und Länder aufzustellen – etwa bei der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts (87–97). Wesentlich kritischer fragt die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher in ihrem Beitrag «50 Jahre Islam in Deutschland. Ist eine ‹Anerkennung› durch den deutschen Staat überfällig?» (99–109). Sie legt den Fokus auf die problematischen Entwick-lungen wie die Radikalisierung, den «Ideologietransfer» durch islamistische Akteure von Nahost nach Deutschland, aber auch die durch existentielle Heimatlosigkeit und Sinnsuche vieler Muslime. Genau diese emotionalen Faktoren der mangelnden Akzeptanz in Deutschland, gepaart mit mangelnder theologischer Bildung, ließen manchen jungen Muslim in radikale Kreise abgleiten, die oftmals Wärme und Gemeinschaften anböten – wie es in ähnlicher Form links- und rechtsradikale Kreise täten. Jihadisten sind für Schirrmacher «zerrissen zwischen ihrer Herkunftskultur, die nicht mehr die ‹ihre› ist, und der Aufnahmekultur, die nicht zu der ihren geworden ist [...]» (102f). Deshalb sieht Schirrmacher für die juristische Anerkenung bzw. die Verleihung des Statuts einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an islamische Verbände noch immer eine ganze Reihe von ungelösten juristischen, organisatorischen und gesellschaftspolitischen Problemen: Von der Gleichberechtigung der Geschlechter über den Abschied vom Islamismus, also der auch heutigen politischen Orientierung am Vorbild Mohammeds und seines Gesellschaftsbildes des 7. Jahrhunderts bzw. der Auslegung des Korans durch Schariagelehrte des 7.–10. Jahrhundert. Eine «Aussöhnung» der islamischen Theologie mit Säkularismus und Rechtsstaatlichkeit, mit Geschichte und Gegenwart «muss aus der etablierten [islamischen, d. Verf.] Theologie selbst kommen, aus ihrem Machtverzicht auf den po-litischen Bereich. Dann wäre ein großer Schritt zur Verleihung von Körperschaftsrechten an muslimische Gruppierungen geleistet [...]», resümiert Schirrmacher (109).

Nicht nur der Islam bringt das klassische Religionsgefüge in Deutschland durcheinander, auch ein neuer Atheismus erhebt öffentlich immer stärker seine Stimme. Aufschlussreich sind deshalb die Analysen aus der Feder des Journalisten Alexander Kissler bzw. des Beauftragten für Weltanschauungsfragen der Erzdiözese München-Freising, Axel Seegers. Kissler widmet sich in seinem Aufsatz «Nackte Affen» der «Agenda und Strategie des organisierten deutschen Neoatheismus am Beispiel der Giordano-Bruno-Stiftung» (121–133), Seegers eher begriffsgeschichtlich dem «neuen Atheismus» (111–122). Er zeigt, wie die von dem umtriebigen Publizisten Michael Schmidt-Salomon angeführten Laizisten (etwa in einem Offenen Brief an die Bundeskanzlerin aus Anlaß des Papstbesuches) für eine strenge Trennung von Staat und Kirche kämpfen. Seegers unterscheidet historisch zwischen einem (philosophisch)theoretischen und einem (lebens)praktischen Atheismus (113). All diese Formen seien aber aufklärerisch einem kritischen Nachdenken verpflichtet. Dagegen sei der neue oder Neo-Atheismus eine heterogene Bewegung, die die bisherigen religionsphilosophischen Diskurse ignoriere, sehr einseitig materialistisch-empirisch-szientistisch argumentiere (116) und «die Religiosität dank der Naturwissen-schaft» für restlos erledigt halte (126). Die Evolutionstheorie liefere die Welterklärung ohne Gott. «Ein solcher Szientismus, ein ‹harter Naturalismus› (Jürgen Haber-mas), ist die Basis der neoatheistischen Argumentationsfolge, die so ihrerseits der Nähe zum Dogma nicht immer enträt» (126). Das führt zwangsläufig zum naturalistischen Fehlschluss, der ethische Sollens-Forderungen aus empirischen Seins-Kategorien ableitet. So macht es etwa der Oxforder Evolutionsforscher und Bestseller-Philosoph, Richard Dawkins, der meint, der Mensch, ein Zufallsprodukt der Natur, habe egoistische Gene und schlicht die Hauptaufgabe, diesen Genen zum Überleben zu verhelfen. Religiöse Gedanken seien dagegen Parasiten im Gehirn, produzierten nichts anderes als Ängste und seien daher zu bekämpfen.

Kissler verweist als weiteren Protagonisten dieser Bewegung auf den australischen Philosophen Peter Singer, der in seiner Ethik Menschsein und Personsein unterscheide, wobei dieser die personale Würde an Kriterien wie Autonomie und Rationalität knüpfe. Da ein ausgewachsener Menschenaffe rational und autonom handelt, wertet er ihn höher als ein Baby oder einen Behinderten. Singers Thesen, denen die Giordano-Bruno-Stiftung nahesteht, sind oft und heftig kritisiert worden, besitzen dennoch eine breite Wirkmacht. Die politischen Konsequenzen zieht in Deutschland der noch wenig bekannte «Koordinationsrat säkularer Organisationen»: Die Menschenwürde soll in eine Personenwürde übergeleitet werden, was zur Legitimation der verbrauchenden Embryonenforschung sowie zu einer liberalen Abtreibungs- und Sterbehilfepraxis führt. Die Partizipation der Kirchen in öffentlichen Einrichtungen (Religionsunterricht, Rundfunkräte, Ethikräte etc.) gehöre beendet, doch auch die als nutzlos deklarierten Geisteswissenschaften sollten akademisch und gesellschaftlich degradiert werden. Doch die Stiftung, die zur Erziehung im Sinne ihres evolutionären Humanismus sogar atheistische Kinderbücher herausgibt, wird im atheistischen Lager kritisch beäugt. So gehen der Philosoph Norbert Hörster und der Autor Joachim Kahl auf Distanz, halten Schmidt-Salomons Thesen wahlweise für bilderstürmerisch, unreif oder defizitär (128). Der Neo-Atheismus – zu dem auch der Humanistische Verband Deutschlands und der Deutsche Freidenker-Veband zählen – bleibt auch wissenschaftlich ein längerfristiges zu analysierendes Phänomen, das in einer säkularen Gesellschaft tendenziell Raum gewinnen dürfte.

Nicht weniger nachdenklich sind die originellen und für die «C»-Parteien in Deutschland nicht unerheblichen Erkenntnisse des empirischen Beitrags «Christentum und Politik – Die Geschichte einer schleichenden Entfremdung» von Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach). Der Meinungsforscher zeigt anhand von Umfrageergebnissen, wie fundamental die «Erosion des Glaubens» (163) gerade in Westdeutschland ist, weil die innere Distanz zur praktizierten Religiosität noch stärker wächst als die Zahl der Kirchenaustritte: Bezeichneten sich 1985 noch 58% der Westdeutschen als religiös, so waren es 2010 nur noch 52%. Die Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher hat sich von rund 60% im Jahre 1954 bis 2010 ungefähr halbiert. Interessanterweise unterliegen die Meinungsäußerungen der Deutschen deutlichen Schwankungen: Während viele Menschen mit klassischen Topoi des Christentums immer weniger anfangen können, ermitteln die Forscher hohe Zustimmungswerte beim Glauben an Wunder, dem Wirken von Engeln und den Fügungen des Schicksals, was auch immer man darunter verstehen mag. Bitter ist für die Großkirchen die Erkenntnis, dass bei der Frage welcher von 18 gesellschaftlichen Institutionen die Deutschen Antworten auf die Zukunft zutrauten, die katholische (4%) und die evangelische Kirche (2%) die beiden letzten Plätze einnahmen. Selbst die öffentliche Verwaltung schnitt mit 5%, die Philosophen mit 10% noch etwas besser ab (165). Am meisten Zutrauen haben die Deutschen in Technik, Ingenieurskunst und Naturwissenschaften (53–51%). Spannend wäre es zu wissen, wie die Kirchen mit diesem desaströsen Ergebnis umgehen. Petersen beantwortet diese Frage nicht, analysiert dagegen die Verbindung zur CDU/CSU. Er meint, dass die nachlassende Kirchenbindung der Deutschen nicht zwangsläufig zur Schwächung der Unionsparteien führen muss. Zwar war es in der Nachkriegszeit einfacher «das christliche Menschenbild» als Legitmationsgrund der Politik der C-Parteien zu benennen. In der praktischen Politikausgestaltung spielte dieses Fundament aber oft nur eine nachgeordnete Rolle (167f). Der Rückverweis auf christliche Werte führt nach den Allensbach-Umfragen interessanterweise auch heute zu hohen Zustimmungswerten – wenn man eine solche Frage polarisierend bzw. kontrastierend stellt und etwa fragt, welche Eigenschaften dem Christentum und welche dem Islam zukommen, welche Religionstradition zu bevorzugen sei. So lehnten 90% der Befragten es ab, einen christlichen Feiertag zugunsten eines islamischen zu streichen. Auch halten immer noch 22% der Deutschen christliche Grundsätze in der Politik für «sehr wichtig» und 30% für «auch noch wichtig». (170). Die Umfrageergebnis sind dennoch nicht eindeutig: Während sich also über 50% für eine christliche Fundierung der Politik aussprechen, halten es 55% der Befragten für unmöglich, dass sich ein Politiker bei wichtigen Entscheidungen konsequent an «christlichen Wertvorstellungen» orientieren solle (170). Anscheinend gibt es einen Bias zwischen einer diffusen Zustimmung zu christlich-europäischen Wertevorstellungen und dem Wunsch nach einer rationalsäkularen Begründung von politischen Sachentscheidungen.

Noch bemerkenswerter ist das Allensbach-Ergebnis, was die Bevölkerung von einer konservativen und von einer christlichen Politik erwartet: Unter christlichen Politikinhalten werden zumeist Themen genannt, die man eher linken Parteien zutraut wie den Einsatz für sozial Schwache und die Dritte Welt, während Ziele wie eine strenge Abtreibungsregelung oder der Kampf gegen verkaufsoffene Sonntage einer konservativen Politik zugeordnet werden. Petersens Fazit sollte die C-Parteien nachdenklich stimmen: «Man bekommt den Eindruck, dass sich das Image des Christlichen [...] von der Position der CDU/CSU entfernt [...]» und zu den politischen Gegnern wandere.

Auch der junge Regensburger Politikwissenschaftler Marcus Gerngroß wirft in seinem Beitrag zu «Die CSU und die Kirche» (175–186) ähnliche Fragen auf und verweist vor allem auf die unter Hanns Seidel, Franz Heubl und Franz Josef Strauss erfolgte «Säkularisierung der CSU» (179f), womit er vor allem die Lösung von klerikal-katholischen Bindungen meint. Das hatte nach dem Krieg auch wahltaktische Gründe, wollte sich die CSU doch auch protestantischen Wählerschichten öffnen. Heute ist die Kirchlichkeit in Bayern zwar noch etwas höher als in Gesamtdeutschland, doch spielen religiöse Milieubildungen auch im Freistaat bei jüngeren Generationen eine immer weniger bedeutende Rolle. Zwei große Herausforderungen müsse die CSU deshalb hinsichtlich ihrer Wählerschaft bewältigen: a) Die Überalterung und b) die Aufteilung der Wähler in Christen und Nicht-Christen respektive Gläubige und Nicht-Gläubige (184). Da sich eine Volkspartei breit aufzustellen habe, um erfolgreich zu sein und das Label «katholisch» zunehmend Wähler abschrecke, eine konfessionsgebundene Politik immer weniger honoriert oder gar zu Flügelkämpfen in der Partei führen könne, steht die CSU vor einem Dilemma. Gerngroß empfiehlt eine punktuelle christlich-wertgebundene Positionierung, um sich von Mitbewerbern zu unterscheiden, aber zugleich auch einen Abschied von der «bloße[n] Betonung christlicher Tradition» (186). Ein moderner Katholizismus (was auch immer Gerngroß damit meint) «sollte als eine von mehreren Strömungen innerhalb der CSU Platz finden» (186). Mehr Fragen also als Antworten, bei denen auch das Plädoyer des Münchner Altmeisters der Politikwissenschaften, Werner Weidenfeld, für «Smartpower als Antwort von Unsicherheit» (191ff) in seinem Aufsatz «Strategische Herausforderungen: Die Kirchen und die Unionsparteien» (187–194) nur wenig weiterhilft. Er fordert die Pflege des Markenkerns der Unionsparteien aus «C» (Christentums-)Orientierung, sozialer Marktwirtschaft und Europa. Softpower bedeute hier das Werben für «die Attraktion einer politischen Ordnung» (192), den Kampf um Deutungshoheit und das Herausbilden einer kommunikativen Verlässlichkeit (194).

Die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag und ehemalige Bundesministerin, Gerda Hasselfeldt, versucht in ihrem Aufsatz «Ist Politik aus christlichem Verständnis noch zeitgmäß?» (149–159) das Dilemma der CSU zwischen christlicher Werteorientierung und bröckelnder Konfessionsbezogenheit mit dem Argument zu lösen, dass sich aus dem christlichen Glauben eine Politik der Freiheit, Verantwortung, Solidarität und Gerechtigkeit ableiten lasse. So könne christliche fundierte Politik auch weiterhin zeitgemäß sein. Hasselfeldt bleibt hier bei konventionellen Begründungsmustern der Unionsparteien. Neue Argumente für die oben beschriebenen veritablen soziologischen und mentalen Verschiebungen in der deutschen Gesellschaft liefert sie nicht.

Der interdisziplinäre, sehr gründlich redigierte und gut zu lesende Sammelband bietet mit einer Fülle von kurzen, spannenden Aufsätzen (denen wohl eher Vorträge als wissenschaftliche Ausarbeitungen zugrunde liegen) einen sehr umfassenden und aktuellen Einblick in die Debatte um Staat und Kirche, allerdings aus einer eher konservativen, durchaus auch bayerischen und politisch klar unionsbezogenen Sicht. Wer sich über den Stand der Diskussionen aus diesem politisch-soziologischen Blickwinkel informieren will, dem sei das Buch von Hildmann/Rößle sehr zu empfehlen.

Zitierweise:
Roland Löffler: Rezension zu: Philipp W. Hildmann/Stefan Rößle (Hg.), Staat und Kirche im 21. Jahrhundert (=Berichte und Studien der Hanns-Seidel-Stiftung 96), München 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 537-541

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